Wo ist eigentlich Ralf?“ – Oder: Warum in der Beratung oft das Unsichtbare wirkt

Autor: Albert-Peter Rethmann

Neulich in einem Workshop mit sechs Führungskräften eines mittelständischen Unternehmens. Der Auftrag: Teamkultur stärken, Rollen klären, die ewigen Reibereien abfedern. Das Übliche – dachte ich.

Die sechs waren pünktlich, vorbereitet und… höflich. Sehr höflich. Zu höflich. Man lächelte, sprach in Wir-Form, stimmte sich gegenseitig zu. Es war fast unheimlich.

Ich fragte irgendwann ganz direkt: „Was würde passieren, wenn Sie hier einmal wirklich sagen würden, was Sie denken?“

Stille. Dann sagte jemand (leicht ironisch): „Dann würde Ralf vermutlich wieder seine E-Mails checken und der Rest in die Küche flüchten.“

Gelächter. Erleichterung. Und plötzlich war Ralf im Raum – obwohl er gar nicht da war.

Ralf, der Unsichtbare

Ralf (Name verändert), so stellte sich heraus, war formal Teil des Führungsteams, aber praktisch nie dabei. Er sagte wenig, schaltete in Online-Meetings meist die Kamera aus und ließ Protokolle durch andere schreiben. Das Team hatte sich irgendwie damit arrangiert – oder besser: arrangieren müssen. Seine Abwesenheit war Teil des Systems geworden. Ein Geist, der in jeder Entscheidung mitspukte.

In der Reflexion sagte eine Teilnehmerin schließlich:„Wir führen ständig Diskussionen in seinem Schatten. Eigentlich führen wir sie für ihn mit.“

Und plötzlich wurde klar: Das Team hatte keine Kommunikationsstörung. Es war schlicht… überkompensierend höflich. Um den leeren Stuhl im Raum nicht anzusprechen.

Systemische Erkenntnisse aus der Kaffeeküche

Später in der Pause – ich stand mit zwei Leuten beim Kaffeeautomaten – sagte einer lachend: „Ehrlich gesagt: Heute war das erste Mal seit Monaten, dass wir uns richtig unterhalten haben.“

Und da war sie, die Tür: Systemisch betrachtet ist oft nicht das Problem das Problem – sondern die Lösung, die sich das System gebaut hat, um mit dem eigentlichen Thema nicht konfrontiert zu werden.

Was nehme ich aus dieser Situation mit? Drei Schlüsse aus der Praxis:

  • Das, was nicht gesagt wird, ist oft wichtiger als das, was gesagt wird.
    Schweigen, Ausweichen, Ironie – all das sind Ausdrucksformen des Systems. Systemische Beratung heißt, diese nichtsprachlichen Signale ernst zu nehmen.
  • „Störungen haben Vorrang“ – auch wenn sie Ralf heißen.
    Es braucht den Mut, das Unbequeme sichtbar zu machen. Nicht anklagend, sondern neugierig. Und manchmal reicht schon ein kleiner Perspektivwechsel, um etwas Entscheidendes ins Rollen zu bringen.
  • Humor ist ein Zugang zum System – kein Ausweg.
    Die lustigsten Momente in Workshops sind oft die ehrlichsten. Lachen entkrampft, verbindet – und öffnet Räume für echte Reflexion.

Am Ende des Tages beschlossen die sechs, dass sie Ralf wieder bewusster einladen wollten – oder klarer definieren, was seine Rolle überhaupt (noch) sein sollte. Und ich? Ich fuhr mit einem Grinsen im Gesicht nach Hause. Denn manchmal ist systemische Arbeit nicht schwer – sie ist einfach menschlich. Und das macht sie so wirksam.