Vor einigen Monaten wurde ich von einer mittelständischen Firma aus der Lebensmittelbranche eingeladen. Der Geschäftsführer war spürbar angespannt am Telefon: „Wir haben ein Team, das nicht mehr miteinander spricht. Zwei Führungskräfte stehen sich unversöhnlich gegenüber – und diese Geschichte lähmt das ganze Projekt.“
Ein klassischer Fall, dachte ich. Und lag daneben. Denn wie so oft zeigte sich: Der eigentliche Konflikt lag ganz woanders.
Die Situation: Zwei Alphatiere – und ein gespaltenes Team
Im Zentrum des Konflikts standen zwei Bereichsleiter – beide fachlich stark, beide charismatisch, beide gewohnt, die Richtung vorzugeben. Die Symptome: Meetings wurden boykottiert, E-Mails ignoriert, Mitarbeiter*innen gerieten zunehmend in Loyalitätskonflikte. Es gab nicht „den einen Auslöser“, sondern eine Geschichte von Missverständnissen, Machtspielen und unausgesprochenem Konkurrenzdenken, die sich über Monate aufgebaut hatte.
Der Geschäftsführer wollte eine schnelle Lösung. Mediation vielleicht? „Ich will, dass die beiden sich wieder zusammenreißen.“ Verständlich – aber zu kurz gedacht.
Der systemische Blick: Der Konflikt als Ausdruck eines größeren Musters
Als systemischer Berater interessiert mich nicht nur das Offensichtliche, sondern auch das, was nicht gesagt wird. In den ersten Gesprächen wurde deutlich: Der Konflikt war nicht nur zwischen den beiden Leitern entstanden – er wurde auch vom System ermöglicht. Die Organisation lebte eine informelle Kultur der Intransparenz: Ziele wurden nicht klar kommuniziert, Rollen waren unklar, Konflikte wurden unter den Teppich gekehrt. Die Führungskräfte agierten im Vakuum – und begannen, sich gegeneinander zu positionieren.
Die Erkenntnis: Der Konflikt war nicht die Störung. Er war ein Signal. Und er erzählte viel über das, was in der Organisation fehlte.
Der Prozess: Vom „Wer hat Recht?“ zum „Was braucht das System?“
Anstelle einer klassischen Mediation habe ich einen mehrstufigen Prozess gewählt:
- Systemische Interviews mit Schlüsselpersonen aus dem Team – nicht nur zu den Konfliktparteien, sondern auch zu Kultur, Kommunikation und Entscheidungslogiken.
- Ein Workshop mit beiden Führungskräften – nicht zur Versöhnung, sondern zur gemeinsamen Reflexion: Welche Muster verstärken wir gegenseitig? Welche Funktion hat unser Konflikt im System?
- Team-Session mit dem gesamten Bereich – mit Fokus auf Erwartungen, Bedürfnisse, und auf die Frage: „Was braucht unser Miteinander, damit wir gemeinsam arbeitsfähig bleiben?“
Und das Ergebnis?
Was in diesem Prozess der Begleitung und Gespräche entstand, war keine Harmonie und allgemeine Happiness. Aber am Ende stand für die beiden Führungskräfte eine neue Klarheit darüber, was zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit der beiden beiträgt und was diese stört.
Die Erkenntnisse – für mich als Berater
Auch ich als Berater habe in dem Prozess wieder neu begriffen und bin darin bestärkt worden, was ich häufig erlebe:
- Konflikte lösen sich nicht durch Technik, sondern durch Beziehung. Erst als die beiden Führungskräfte begannen, sich nicht nur gegenseitig zu kritisieren, sondern ihre eigenen Unsicherheiten zu zeigen, wurde Bewegung möglich.
- Systeme erzeugen Konflikte, die sie (noch) nicht regulieren können. Nicht die Personen sind das Problem – sondern die Strukturen, die bestimmte Dynamiken ermöglichen oder verstärken.
- Als Berater bin ich Teil des Systems, das ich begleite. Meine Fragen, meine Haltung, meine Art der Rahmung verändern das System. Das ist keine Last, sondern eine Verantwortung.
Fazit: Konflikte sind wertvolle Spiegel
Heute arbeiten die beiden Führungskräfte wieder miteinander – nicht konfliktfrei, aber bewusster. Das Team hat eine neue Vereinbarung zur Entscheidungsfindung getroffen, und der Geschäftsführer hat erkannt, dass „Zusammenreißen“ keine nachhaltige Strategie ist.
Und ich? Ich bin einmal mehr darin bestärkt worden, dass systemische Konfliktberatung nicht auf Harmonie zielt – sondern auf Entwicklung.